Am 17. Juli 1918 wurde in Jekaterinburg Nikolai Alexandrowitsch Romanov ermordet; zusammen mit seiner Familie. Es war dies eine Zeit des allgemeinen Mordens und Blutvergießens; so viel wurde gemordet, daß die meisten der in diesen und den folgenden Jahren gewaltsam abgebrochenen Einzelschicksale in Vergessenheit gerieten. Denn das ging in die Millionen… An die Ermordung von Nikolai Alexandrowitsch Romanov erinnert man sich aus dem Grunde, weil er, unter dem Namen Nikolai II, der letzte russische Zar war.
Und nun, neunzig Jahre später, bemüht eine gewisse Maria Romanova, Nachfahrin jener einstmals Rußland beherrschenden Familie, die russischen Gerichte mit der Forderung, den ermordeten Nikolai zu rehabilitieren. Einzelheiten dieser traurigen Komödie kann man, zum Beispiel (in Russisch) nachlesen unter
http://www.gazeta.ru/2006/06/26/oa_205569.shtml.
Was eine solche Rehabilitation beinhalten soll, was man durch sie erreichen will – bleibt unverständlich. Zu Zeiten der Sowjetunion wurde nach der „Entlarvung des Personenkults“ fleißig rehabilitiert; das heißt, Menschen, welche aufgrund des Stalin-Terrors unschuldig jahrelang in Lagern oder Gefängnissen eingesperrt waren, wurden befreit und erhielten eine Bescheinigung, daß sie unschuldig sind; und wer den Terror nicht überlebt hatte, wurde posthum rehabilitiert. Das war alles sinnvoll; denn mit der „Entlarvung des Stalinschen Personenkultes“ hörte die Sowjetunion mitsamt ihrer Verfassung nicht auf, zu existieren: der Rehabilitierte galt im Sinne der Verfassung als unbescholtener Bürger, hatte unter Umständen Anrecht auf Entschädigung; und selbst eine posthume Rehabilitierung brachte bei der in der Sowjetunion üblichen Sippenhaft immerhin Vorteile für die Familie.
Inzwischen hat die Sowjetunion mitsamt ihrer Verfassung aufgehört, zu existieren, und wer durch den Stalin- und auch post-Stalin-Terror in Mitleidenschaft gezogen war, hat, ob rehabilitiert oder nicht, mitsamt Angehörigen keinerlei Nachteile mehr zu befürchten. Und auch der gesellschaftliche Ruf ist nicht gefährdet, da heute allgemein bekannt ist, daß das Hineingeraten in die Mühlen der sowjetischen Terrorjustiz nichts mit moralischen Qualitäten des Betroffenen zu tun hatte (oder höchstens in dem Sinn, als moralisch hochstehende da noch leichter reingerieten als andere).
Der Staatsapparat ist – was leicht übersehen wird – eine rein pragmatische Angelegenheit, welche das Zusammenleben der Menschen regelt oder zumindest regeln soll. Daß er nicht selten – selbst von stramm atheistisch auftretenden – mystifiziert wird, hat mit dem realen Sachverhalt nichts zu tun; oder höchstens insofern, als er, der reale Sachverhalt, vernebelt wird und daß dem Staatsapparat durch solche Mystifizierung eine Macht zugesprochen wird, die ihm eigentlich nicht zusteht (im Deutschen gab oder gibt es, zum Beispiel, eine Bezeichnung „der Vater Staat“, und so weiter…). Interessante Folge solcher Mystifizierung ist, zum Beispiel, daß besonders bei autoritätshörigen Zeitgenossen die moralischen Qualitäten eines Menschen bestimmt werden auf Grundlage seiner Beziehung zum Staatsapparat. Wurde er durch den Staatsapparat nie zur Rechenschaft gezogen, ist er „unbescholten“ – so ist er in Ordnung. Ein Mensch kann um sich herum seine Mitmenschen das größte Elend stürzen – wenn er es schafft, solches unter Vermeidung von Konflikten mit dem Staatsapparat zu bewerkstelligen und unbescholten zu bleiben – so ist er ein geachteter Bürger. – Solche Ablenkung von den faktischen moralischen Qualitäten eines Menschen, vom faktischen Wert seines Tuns ist, eben, eine Folge der Mystifizierung des Staatsapparats.
Kommen wir zurück zu Nikolai Alexandrowitsch Romanov. Wenn man seine Tagebücher und Aufzeichnungen liest und die geschichtlichen Ereignisse jener Zeit sich vergegenwärtigt, in die er eingriff oder zumindest hätte eingreifen sollen – bekommt man den Eindruck, daß das ein hochanständiger Kerl war und ein vorbildlicher Familienvater; daß er aber das ganz große Pech hatte, in eine Funktion hineingeboren zu werden, der er aufteufelkommraus nicht gewachsen war. Wenn man seine Aufzeichnungen und seine Taten genauer studiert, kann man sich so nach und nach ein Bild machen von dieser Persönlichkeit und ihren menschlichen Stärken und Schwächen. Wenn man es studiert… Wenig bis gar keine Anhaltspunkte zu den moralischen, menschlichen Qualitäten jenes Nikolai Romanov erhält man hingegen aus der Tatsache, daß er am 17. Juli 1918 in Jekaterinburg erschossen oder ermordet wurde.
Von einer „moralischen“ Rehabilitation kann bei näherem Hinsehen keine Rede sein; das sind Dinge, die mit dem Staatsapparat nichts zu tun haben (wie gesagt: höchstens für solche, die den Staatsapparat mystifizieren und den Wert eines Menschen an der Art seiner Beziehungen zu selbigem bemessen; doch das ist deren Problem). – Was für praktische Folgen eine Rehabilitation für die entfernten „Hinterbliebenen“ haben könnte – bleibt schleierhaft1). Niemand verfolgt sie, niemand macht ihnen einen Vorwurf daraus, daß sie entfernt verwandt sind mit jenem vor neunzig Jahren ums Leben gekommenen…
So daß man etwas Mühe hat zu verstehen, was das eigentlich soll…
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1) Die Richter, die sich mit dieser Spiegelfechterei abzuquälen haben, meinen, daß es sich bei jener Erschießungsaktion um einen kriminellen Akt, also um einen ganz normalen Mord handelt und daß deswegen von einer Rehabilitierung keine Rede sein kann. – Um im Sinne der jenem Rehabilitierungsgesuch zugrundeliegenden verworrenen Mystik definieren zu können, ob es sich um einen Mord oder um eine Hinrichtung handelt, muß man erst feststellen, ob im juristisch-mystischen Sinne zu jenem Zeitpunkt die Sowjetunion bereits als existent zu betrachten ist; und wenn ja: ob der Befehl zur Erschießung von beglaubigten Vertretern dieser Staatswesenheit erging, oder ob die Erschießenden nach eigenem Gutdünken handelten. – Obwohl man sich fast schämen muß, einen solchen keinerlei Realitäten berührenden Gedankengang überhaupt auszusprechen, sei er der Vollständigkeit halber trotzdem erwähnt.