Im herkömmlichen Sinne rechnet man zur „Außenseiterkunst“, „Outsider Art“, „Art brut“ die Arbeiten von Menschen, die, ohne eine offizielle Ausbildung absolviert zu haben und ohne einen entsprechenden Status (Künstler, Schriftsteller o.ä.) anzustreben oder auszufüllen, ohne finanzielles oder sonstiges der Sache fremdes Interesse rein aus einem elementaren Ausdrucksbemühen oder aus reiner Freude am Gestalten in den verschiedensten Bereichen künstlerisch tätig sind. Streben nach Perfektion oder gar Annäherung an solche gilt bei dieser Sichtweise als außenseiterfremd; was hier zählt ist: ausdrucksstarker Rohzustand.
Solche Sichtweise liegt auch dem in den neunziger Jahren in Moskau gegründeten und 2011 nach Montenegro verlegten Zentrum für Außenseiterkunst zugrunde, dessen Entstehen ich in Moskau aus der Nähe mitverfolgte und mit dem ich nun, nach mehreren Jahren ohne Kontakt, in Montenegro zusammenarbeite.
Ich selbst empfand das Postulat bezüglich „Fehlen von Professionalität“ und „Rohzustand“ von jeher als einengend; das Wesentliche sehe ich in der von sachfremden Beimischungen (wie Ehrgeiz, Gewinnstreben, Nachahmen angelernter Formen usw…) unberührten Ehrlichkeit; ganz egal, ob der Schaffende die Regungen seiner Seele spontan, unreflektiert ins Äußere verkörpert, oder ob er sie bewußt zu einer gewissen Stimmigkeit mitgestaltet, ausgestaltet.
Das heißt, es geht mir nicht um den Unterschied zwischen professioneller und nichtprofessioneller Kunst, sondern: zwischen ehrlichem Ausdrucksbemühen, ehrlicher Freude am Gestalten einerseits, und Augenwischerei andererseits.
In beiden Richtungen – im ehrlichen Ausdrucksbemühen wie in der Augenwischerei – gibt es ein weites Spektrum von reinem Amateurschaffen bis hin zu ausgearbeiteter Professionalität; nur die Mittel und Resultate sind jeweils andere.
Und dann gibt es neben der einfachen Augenwischerei noch die Augenwischerei zweiter Stufe, die Augenwischerei2.
Bei der einfachen Augenwischerei, der Augenwischerei1 also, malt oder schreibt irgendein konkreter Mensch solcherart, daß er damit Anerkennung im Geiste der herrschenden Kriterien anstrebt, ohne daß er von sich aus etwas auszudrücken hätte; rein der Anerkennung oder des Geschäftes willen. Das kann rein amateurhaft sein, kann aber auch unter Anwendung angelernter professioneller Techniken geschehen.
Bei der Augenwischerei zweiter Stufe, d.h. der Augenwischerei2, geht es nicht mehr darum, daß ein konkreter Akteur durch kunstähnliche Tätigkeit Eindruck schinden will; da treten die Imagemaker auf den Plan und sonstige Sozial-Medizinmänner, die systematisch durch psychologische und soziale Tricks irgendwelche Leute (die nicht zuviel eigene Ansätze aufweisen, nicht zuviel Rückgrat haben dürfen, da sonst die Gefahr besteht, daß sie durch eigenständige Schritte die Arbeit der sie aufbauenden Sozialmedizinmänner durcheinanderbringen) im Bewußtsein der Öffentlichkeit zu großen Schriftstellern oder Künstlern oder sonstigen „Promis“ aufbauen. Wenn diese Sozial-Medizinmänner ihr Geschäft verstehen, so kann die von ihnen aufgebaute Person den größten Unsinn verzapfen, der dann vom Publikum als höchste Weisheit, höchste Kunst anerkannt wird. Die Augenwischerei2 ist natürlich immer hochprofessionell; ohne professionelle Tricks funktioniert das nicht. Das heißt: hochprofessionell seitens der Sozial-Medizinmänner; der von ihnen Aufgebaute ist nur Material.
Menschen, die ehrlich etwas zum Ausdruck bringen, galten zu allen Zeiten als Spinner oder auch Kriminelle: weil man sie nämlich - vor dem Hintergrund des Altvertrauten und Gewohnten - nicht verstand und weil aus der Geistesgegenwart heraus ehrlich Ausformuliertes sich immer unterscheidet von den Schlagworten und den allgemein anerkannten Schematismen.
Anders gesagt: wer ehrlich unter Entwicklung eigener Lebensformen, Ausdrucksformen abseits aller gewohnter fixen Vorstellungen, Lebensschemen, Ausdrucksschemen, Jargons seinen Weg geht, ist immer „Außenseiter“.
Dies gilt ganz besonders für die heutige Zeit, wo – nicht zuletzt dank der unterstützenden Funktion der Massenmedien und der Sozialmedizinmänner – im Grunde alles auf Augenwischerei aufgebaut ist, während man ehrlichen Ausdruck, ehrliches Ausdrucksbemühen eher als schrullig empfindet.
Dies, nebenbei gesagt, als Anlauf für eine Neuformulierung des Anliegens dieses unseres Zentrums, welches, räumlich gesehen, untergebracht ist in dem auf untenstehemdem Foto abgebildeten grünen Haus im Hintergrund.
In Hoffnung auf eine erfolgreiche Weiterführung dieses Anlaufs
So isses