Sonntag, April 11, 2010

Katyn und Nationalitätsfrage

Nachfolgende Gesichtspunkte hatte ich zunächst in verstreuten Briefen formulieren wollen und nicht öffentlich. Gleich nach dem ersten Brief disponierte ich um: soll das lesen, wer will.

Kopier den Brief, mit ein paar unwesentlichen Ausmerzungen zu sehr ins Auge fallender stilistischer Schnitzer, einfach mal rein.

Also:

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“Vielleicht wäre es angebrachter, jene nachträglich noch von einem Flugzeugabsturz gekrönte Katyn-Katastrophe allgemein als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu betrachten und die rein nationalen Gesichtspunkte in den Hintergrund treten zu lassen?

Ist es denn überhaupt rechtens, wenn Rußland die Schuld für Katyn auf sich nimmt? Federführend war doch die Sowjetunion? Wie verhält Rußland sich zur einstigen Sowjetunion? - Nun gut, die Entwicklung, die zur Entstehung der Sowjetunion führte, begann in Rußland; die Hauptstadt der Sowjetunion lag ebendort, und die Amtssprache war Russisch. Ansonsten war Rußland eine Sowjetrepublik unter anderen Sowjetrepubliken.

Weil man Rußland mit der Sowjetunion gleichsetzt, übersieht man auch leicht den durch das Sowjetregime durchgeführten Genozid an den Russen (für den Genozid an den Kosaken - eigentlich auch Russen - gab es sogar einen eigenen Ausdruck: расказачивание, ‘Entkosakisierung’; stammte, glaub ich, von Trozki).

Starker, eigentlich allmächtiger Mann in der Sowjetunion war damals bekanntlich Stalin, der eigentlich Dschugaschwili hieß und aus Georgien stammte (kenn hier in Tbilissi jemanden, von dem irgendwelche Vorfahren Anfang letzten Jahrhunderts mit jenem Dschugaschwili zusammen waren und der, als Familienreliquie, einen Revolver aufbewahrt, mit dem selbiger Dschugaschwili seinerzeit auf Bankraub - oder, vornehmer ausgedrückt: Expropriation - ging. Mit dem Ding kann man sogar noch schießen. Dies nur nebenbei)

Berija - der maßgeblich am Zustandekommen des Katyn-Massakers beteiligt war - war bekanntlich gleichfalls Georgier (in Zentralgeorgien schiebt man ihn weiter ab mit der Bemerkung: er war Megrele).

Anfang der neunziger Jahre lernte ich in Moskau den Enkel des Menschen kennen, der die Exekutionen in Katyn geleitet hat. Dessen Frau - die Großmutter meines Bekannten also - war selbst Polin; beide waren sie frühere Mitstreiter des - polnischstämmigen - Dsershinsky, der ja bekanntlich jene fatale Vernichtungsmaschinerie aufgebaut hat. Wie sie meinem Bekanntem - ihrem Enkel also - erzählten, wollten sie das eigentlich gar nicht machen; doch wenn sie sich geweigert hätten, den betreffenden Befehl auszuführen, so hätte sich jemand anderes gefunden, und der hätte sie dann gleich mit exekutiert.

(Ich war damals noch nicht ganz so fix und beweglich in geschichtlichen Dingen und hatte auch andere Sorgen; ging dem dann auch weiter nicht mehr nach, und jenen Bekannten verlor ich aus den Augen. Inzwischen bin in zwar fixer und beweglicher, sogar spielte ich kurz mit dem Gedanken, über noch vorhandene Kanäle mich um Wiederherstellung jenes Kontakts zu bemühen; doch hab ich heute schon wieder andere Probleme....)

Der langen Rede kurzer Sinn: es scheint mir also fragwürdig, diese Sache - gleich manchen anderen Sachen - vom eng nationalen Gesichtspunkt aus zu betrachten; am ehesten gerechtfertigt scheint mir, es allgemein als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu handhaben. “

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So weit dieser Brief.

Als mehr am Rande mit obigem zusammenhängender Nachtrag noch: Wo Verbrechen unter nationalistischen Gesichtspunkten zustandekommen, muß bei der Beurteilung natürlich auch der nationale Gesichtspunkt berücksichtigt werden (wobei nicht zu vergessen ist, daß eine Regierung oder eine nationalistische Organisation nicht automatisch die Sichtweise restlos aller Vertreter der betreffenden Nation vertritt). Und wenn, zum Beispiel, ein Staatsoberhaupt einen nationalistischen Massenmörder nachträglich zum Nationalhelden ernennt (wie geschehen in der Ukraine mit Stepan Bandera), so ist es Sache derjenigen, die damit nichts zu tun haben wollen, sich öffentlich davon zu distanzieren (wie glücklicherweise gleichfalls geschehen).

Angemerkt sei noch, daß meiner Beobachtung nach engstirnige fanatische Nationalisten in der Regel wenig bis keine Ahnung haben von dem, was an Entwicklungsfähigem in der angeblich von ihnen vertretenen Nation veranlagt ist. Dieses Entwicklungsfähige kann sich, wie mir scheint, nur in freiem, lockerem Miteinander mit anderen Nationen entfalten und wird durch Nationalismus eher erstickt. Auch dies gilt es bei der Beurteilung von Verbrechen „auf nationaler Grundlage“ zu berücksichtigen: daß nämlich Nationalisten auch die in gewisser Hinsicht eher „rechtmäßigen“ Vertreter der betreffenden Nation unterdrücken.

Letzteres nur nebenbei, da, eben, meinem Verständnis nach in Bezug auf Verursacher und Ausführende des Katyn-Massakers höchstens ganz am Rande nationale Gesichtspunkte eine Rolle spielen.

Raymond

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Nachbemerkung

Diesen Text findet man auch in einer Zusammenstellung, die den Titel trägt "Wegmarken auf dem Weg in die Katastrophe" und die man unter https://dl.dropboxusercontent.com/u/54042052/KL_Wegmarken.pdf anschauen und/oder herunterladen kann.

 

Aus dem Vorspann:

"Bewußt bin ich mir, daß zu dem Zeitpunkt, da ich diese Vorbemerkung in den Computer tippe (Ende April 2013), viele Zeitgenossen nicht recht verstehen werden, von welcher Katastrophe hier die Rede sein könnte.

Und im Herbst 2008, als die erste der hier veröffentlichten Notizen zustandekam, waren es zweifellos noch viel mehr.

Doch die Zeiten ändern sich; immer mehr von jenen, die von keiner herannahenden Katastrophe etwas merkten oder merken wollten, werden von deren sich ausweitenden und sich Platz bahnenden Fluten erfaßt oder direkt damit konfrontiert, oder entdecken aus sonstwelchen Gründen, daß irgendwas nicht stimmt."

Doppelnas

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